„Da ist alles an Gefühlen drin in diesem Stück, vom Kleinsten bis zum Grössten, das Gigantische genannt. Die grössten 2-3 Brocken sind Gegenstände, grösser als vom Menschen je hergestellt.“
Es ist irgendwie typisch für Christoph Marthaler, aus Versehen ins Schwarze getroffen zu haben. Als er und sein Team entschieden, ihr neues Stück in einer Apotheke spielen zu lassen, sprach noch niemand von Corona. Apotheken waren Apotheken, keine Test- und Impfinstitute. Auch wahr aber ist: Apotheken waren noch nie nur Apotheken, immer schon waren sie saubere, ordentlich-sterile und schweizerisch-freundliche Orte der Krankheit und – wenn man so will – des Zerfalls. Man geht ja nur hin, wenn etwas nicht funktioniert. Im Grunde ist eine Apotheke der einzig zwingende Ort, um die dadaistischen, abgründigen ja apokalyptischen Sätze des Künstlers Dieter Roth wie Pillen zu Boden fallen zu lassen. Schon vor der Krise waren Krankheit und Tod ja da, selbst in der Schweiz, nur wollten wir glauben, es gäbe Mittel dagegen.
Direkt vor der geplanten Premiere des Stückes auf der Pfauenbühne des Zürcher Schauspielhauses fuhr das Land in den Lockdown. Als man dann für kurze Zeit wieder Theater schauen konnte, mit Hygienemaske und Sicherheitsabstand zum potentiell virusbefallenen Sitznachbarn, war es besonders aberwitzig, auch im Theater noch in einer Apotheke zu sitzen. Doch dann ging es erfreulicherweise gar nicht um das Virus, sondern um Fusspilz, Nebenwirkungen und Musik.
Wer sind diese hilfsbereiten Damen in weissen Kitteln und Gesundheitsschuhen wirklich, was tun sie, wenn sie alleine sind? Das mag sich das wunderbare Frauenensemble angesichts der Bühne von Duri Bischoff gefragt haben. In dieser Apotheke jedenfalls tanzen sie eine Dance Macabre mit Dieter Roths „Rede-Text“ – auch genannt das „Tränenmeer 4“. Bisweilen auf Italienisch. Bisweilen natürlich gesungen. Und manchmal tragen sie einen Mann hinaus, weil er im Weg steht. Doch wie im Grunde alles im Marthaler-Theater, kommt er unbeirrt wieder. Und wird unbeirrt wieder hinausgetragen.
Dieter Roth, der Teile seines Lebens in der Schweiz, andere in Island, den USA und Deutschland verbrachte, war Dichter, Grafiker und stellte Kunstwerke unterschiedlichster Art her, darunter Schimmelbilder, Schokolade-Plastiken und Literaturwürste. Er war fasziniert vom Zerfall. Seine Texte seien die Nebenwirkungen seines Schaffens, sagte er einmal, was für ihn möglicherweise heisst, dass sie das Eigentliche waren. Christoph Marthaler hat ihn ein paarmal getroffen, einmal auch in einer Apotheke. Das Sonderbändchen „Tränenmeer“ war ein kleines Geschenk. Vielleicht hoffte ja Dieter Roth, dass seine Sätze einmal den Weg in eine versponnene Marthaler-Inszenierung finden würden.