VERÖFFENTLICHT AM 22.03.19

Triumph der Sprache - Entdecken Sie das Programm 2019!

Im Reich der Sprache schweigen die Bilder. Das Bedürfnis nach Versprachlichung zieht sich wie ein roter Faden durch die Auswahl des diesjährigen Schweizer Theatertreffens. Von den sieben Theaterstücken, die im Wallis zur Aufführung kommen, setzt kein einziges auf die Magie der Bilder, um ein Thema zu vertiefen. Alle vertrauen auf die Präsenz der Schauspielerinnen und Schauspieler, das Publikum direkt – und oft ohne Kunstgriffe – zu berühren. In der Schweiz und anderswo scheint die soziale und politische Dringlichkeit nach einem stärker inkarnierten und weniger grafischen oder poetischen Theater zu rufen. Das gilt für Inszenierungen des klassischen wie des modernen Repertoires gleichermassen.

Regisseur François Gremaud verwandelt Racines Tragödie Phèdre in einen spielerischen Vortrag, in dem ein Schauspieler die Problematik des Stücks zusammenfasst und Textauszüge in Alexandrinern rezitiert. Das Kuratorium des Schweizer Theatertreffens hat diese Produktion der 2b company und des Théâtre Vidy-Lausanne deshalb ausgewählt, weil sie die Kriterien Exzellenz und Innovation erfüllt und sich in stillem Einverständnis mit dem Publikum mit einem klassischen Werk auseinandersetzt.

In ähnlichem Sinn untersuchen Eric Devanthéry und die Genfer Compagnie Utopia Les Misérables: Am Anfang der Aufführung werden die Geburtsdaten und das psychologische Profil der Figuren angegeben, dann wird ihre Beteiligung beim für Victor Hugo wesentlichen Streben nach Gerechtigkeit betont. Hier besticht die politische Aktualität des Themas, das künstlerische Niveau des Ensembles und die dramaturgische Meisterleistung, den schier uferlosen Roman auf einen Theaterabend zu kondensieren.

Machtvoll ist die Sprache auch im Café Populaire von Nora Abdel-Maksoud. Die Schauspieler des Theaters Neumarkt stellen mit Bravour Situationen dar, die Unterschiede und Spaltungen hinter der Illusion einer sogenannten sozialen Gerechtigkeit entlarven. Die Arbeit überzeugte durch ausgezeichnete schauspielerische Leistungen, ihre thematische Aktualität (verdeckte Diskriminierung) und durch die Kunst der Kontroverse.

Das von Markus Schönholzer komponierte und von Stefan Hubert inszenierte Musical Coco des Autors Alexander Seibt, eine Produktion von Konzert Theater Bern, strahlt mehr Lyrik und Glamour aus. Doch auch hier wird das Publikum schonungslos mit der Frage der befreiten Identitäten konfrontiert. Auffallend ist hier insbesondere die hohe künstlerische Qualität der Arbeit/Inszenierung, die durch das Thema ausgelöste Debatte und die emblematische Rolle von Coco, der Deutschschweizer Muse und Transfrau, die in den 1980er- und 1990er-Jahren neue Wege ging.

Das subtile Theaterstück Sara - Mon histoire vraie (1) von Ludovic Chazaud wurde von der Compagnie Jeanne Föhn mit La Grange de Dorigny und dem Petithéâtre Sion produziert. Hier äussern sich zwei Schauspieler und ein Erzähler ohne jegliche Kunstgriffe zum Thema Mobbing an der Schule. Das Theaterstück mit vielen Auftritten des Autors ist dem aktuellen Trend zur Autofiktion zuzuordnen. Das Kuratorium schätzte hier besonders die bemerkenswerte Qualität der Darstellung und die Brisanz der Thematik.

In Gaia Gaudi, einer Produktion des Theaters am Hechtplatz und LuganoInScena, ruft Gardi Hutter ihre Kinder auf die Bühne und inszeniert mit viel Humor den eigenen imaginierten Tod. Die beeindruckende künstlerische Qualität der Aufführung, der für eine Region emblematische Charakter und die Popularität der grossen Künstlerin, die in der Schweiz Generationen von Zuschauern berührt hat, waren für das Kuratorium ausschlaggebend.

Eine gänzlich andere Stimmung herrscht bei ANTIGONE::COMEBACK. Die von Mikeska-Althoff-Kittstein von der Compagnie RAUM+ZEITkreierte Aufführungverlässt die Frontalanordnung und setzt sich in einem virtuellen Abenteuer mit dem Kräfteverhältnis zwischen Regeln und Instinkt, Gesetz und Leben auseinander. Mit der Auswahl dieser Produktion des Theaters Chur zollt das Kuratorium dem innovativen Charakter des Stücks Tribut – und seiner Qualität, eine Diskussion anzuregen.

2019 stellt sich das Theater in der Schweiz den Herausforderungen der Kontroverse und verweist die «Art pour l'art» auf den Platz eines überholten Konzepts; zugleich bleibt es aber auch lustig, lebhaft, mutig und grosszügig. Alle Stücke am 6. Schweizer Theatertreffen erfüllen diese doppelte Aufgabe.

(Marie-Pierre Genecand für das Kuratorium)

Vorverkauf ab 10. April 2019