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Sebastian Schug / Bühnen Bern
«Liebe Blutbuche, wie wird mensch so gross und stark wie du?» Das fragte das Kind Kim, die grosse Blutbuche im Garten seiner Grossmutter.
«Ach Kim, wie werde ich so gross und stark wie du?» Das mögen sich Lesende fragen, wenn sie in dieses Buch eintauchen. Wenn sie sich dieser unglaublich virtuos verästelten, hochsensiblen, aber eben auch blutigen und schonungslosen Gefühlswelt der Erzählstimme Kims wirklich stellen, sich darauf einlassen. Denn nur dann kommt mensch an in dieser Welt von Kim und dessen «Grossmeer», die so heimatlich wie monströs anmuten. Diesen Weg mitzugehen kostet etwas, mensch muss Schalen abwerfen, Gewissheiten ziehen lassen, muss bereit sein, sich ein paar Wahrheiten zertrümmern zu lassen. Wahrheiten, die unsere Welt übersichtlich, binär, strukturiert machen. Und ja, mensch begreift natürlich: non-binär ist weiter, freier, komplexer, schwieriger, schmerzhafter – und wahrer.
Die gleiche Frage mag sich auch die junge Lucia Kotikova in der Begegnung mit diesem Text gestellt haben: «Wie werde ich so gross und stark wie du?» Wie trifft man als Performerin die Vielschichtigkeit, die diesen Text ausmacht, wie diese vielen, die Kim sind? Es gelingt ihr grandios und das liegt hauptsächlich daran, dass alles, was sie tut, unfertig, skizzenhaft, aufgerissen ist. Und doch immer intensiv und ganz dem Moment verpflichtet. Lucia Kotikova stellt sich mit ihrem Körper einem Textkörper zur Verfügung, sagt «ich» und «Grossmeer», wird traurig, zart, böse, leidenschaftlich, und bleibt doch immer Performerin, Darstellerin von etwas, das sich entziehen will, das Unabgeschlossen bleibt und bleiben soll.
Die Inszenierung von Sebastian Schug gewährt ihrer Protagonistin sowie dem Text von Kim de l’Horizon grosse Freiheit. Keine Vorstellung ist wie die andere, denn die Spielerin entscheidet, welche Stellen sie für ein bestimmtes Publikum vorträgt, alles geht ja sowie so nicht. Sie kommuniziert durchgehend mit den Zuschauenden, bespricht, was sie als nächstes tun wird, und lässt sich dann ganz aufsaugen und anfressen von der radikalen und doch humorvollen Welt von Kim.
Julie Paucker
Mit dem Debütroman«Blutbuch» (2022) schaffte es Kim de l’Horizon zuerst auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, erhielt dann eine Nominierung in der Schweiz, und gewann – es war eine Sensation – nach dem Deutschen direkt den Schweizer Buchpreis dazu. Kim de l’Horizon ist seither zu einer Art Kultfigur der nonbinären Identität geworden . In der Inszenierung des Romans in Zürich performte Kim selbst, gemeinsam mit dem Ensemble. An den Bühnen Bern, wo Kim de l’Horizon bereits ein Jahr lang Hausautor*in im Rahmen des Stücklabors gewesen ist, erhält der Text in der Regie von Sebastian Schug eine ganz neue, sich völlig auf seine Performerin verlassende Form. Die Schauspielerin Lucia Kotikova ist seit der Spielzeit 2021/22 im Erstengagement an den Bühnen Bern verpflichtet, und wurde unter anderem für ihren «Blutbuch»-Monolog als «Nachwuchsschauspielerin des Jahres» ausgezeichnet.
Von: Kim de l'Horizon
Mit: Lucia Kotikova
Regie: Sebastian Schug
Bühne: Nicole Zielke
Kostüme: Nicole Zielke
Dramaturgie: Julia Fahle
Licht: Reto Dietrich
Assistenz: Federica Egli
Abendspielleitung: Lisa-K. Breuer
Französische Übertitel: Dòra Kapusta - subtext.me
© Editions Julliard pour la traduction française de Rose Labourie